So viel Arbeit: muss das sein?

Gedanken zur aktuellen Arbeitsdiskussion

Die Diskussion über die Arbeitszeit von Menschen nimmt in der gesamten westlichen Welt Fahrt auf.
Besonders in Mitteleuropa gibt es starke Stimmen, die für eine Reduktion der Wochenarbeitszeit plädieren.
Die Argumente dieser Stimmen sind vielfältig. Aussagen wie „zu viel Arbeit macht krank“, „es hat in der Geschichte schon einige Reduzierungen der Arbeitszeit gegeben, jetzt muss eine weitere her“, „weniger Arbeitszeit macht produktiver“, etc.

In der Süddeutschen Zeitung war vor einiger Zeit zu lesen:
Das Problem: 80 Prozent aller Arbeitnehmer sind chronisch gestresst.
Die Lösung: Deutlich weniger arbeiten bei vollem Lohn. Das macht nachweislich kreativer und produktiver.

Laut einer 2023 durchgeführten Umfrage des Linzer market-Instituts für das Wirtschaftsmagazin trend in Österreich sieht die Mehrheit der Befragten den Trend zur Teilzeitarbeit jedoch kritisch. Sie fordert von der Politik, Vollzeitarbeit im heutigen Sinn über (steuerliche) Anreize attraktiver zu machen.
Viele weiteren Untersuchungen bestätigen diese Mehrheitsmeinung. „Überraschend ist, dass auch die Jüngeren überwiegend negativ (der Teilzeitarbeit) eingestellt sind“, beobachtet market-Expertin Birgit Starmayr.

Meine Empfehlung dazu:

Meine Erfahrung aus 25 Jahren Zusammenarbeit mit hunderten europäischen Unternehmen und tausenden erwerbstätigen Menschen möchte ich hier zusammenfassen.

Die Diskussion über zumutbare Arbeitszeiten ist aus meiner Sicht nur ein Symptom eines wesentlich tieferliegenden Phänomens: Denn offenbar wird der tiefere Sinn der Erwerbsarbeit nicht mehr gesehen oder er will nicht gesehen werden: Im Rahmen des marktwirtschaftlichen Systems müssen Unternehmen versuchen, Menschen zu Kunden zu machen.
Das ist der eigentliche Zweck jedes Unternehmens: Kunden zu finden und im Idealfall zu binden.
Denn die Kunden geben dem Unternehmen die Lebensberechtigung und können diese auch wieder entziehen.

Arbeitsplätze können nur vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Rahmenbedingung geschaffen bzw. erhalten werden.

Oder anders formuliert: der einzige Grund, warum Menschen in Unternehmen arbeiten, sind die Kunden.

Kein besonders komplizierter Gedankengang, möchte man meinen. Und auch einer, der sich einfach historisch beweisen lässt.

Der historische Beweis:

Der große Viktor Frankl hat bewiesen, dass Menschen vor allem nach Sinn im Leben streben, nicht primär nach Selbstverwirklichung, wie das Abraham Harold Maslow postulierte.
Auch Maslow selbst hat in dieser Hinsicht in einem offenen Brief Frankl recht gegeben.
Selbstverwirklichung kann sehr schnell narzisstische Züge annehmen, möglichweise sehen wir das auch in der Arbeitszeitdebatte.

Wenn man sich mit den Argumenten der Befürworter der Arbeitszeitverkürzung detailliert auseinandersetzt, erkennt man schnell, dass die meisten Argumente auf eine Frage abzielen:
„Was ist gut für mich als arbeitender Mensch?“ oder besser, was glaubt man, das gut für diese Menschen sei?

Viktor Frankl führte aus, dass es mehrere Möglichkeiten gebe, Sinn im Leben zu finden:

  • Zum einen: der Dienst an einer Sache: Durch die Erfüllung einer Aufgabe, die Erbringung einer Leistung, eines Ergebnisses.
  • Weiters: der Dienst an einer Person (in Bezug auf Erwerbsarbeit z.B. Kollegialität, Hilfsbe-reitschaft, Solidarität…)

Frankl hierzu:
„Im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person erfüllt der Mensch sich selbst. Je mehr er aufgeht in seiner Aufgabe, je mehr er hingegeben ist an seinen Partner, um so mehr ist er Mensch, um so mehr wird er selbst. Sich selbst verwirklichen kann er also eigentlich nur in dem Maße, in dem er sich selbst vergisst, in dem er sich selbst übersieht.“

Der Management Vordenker Fredmund Malik formulierte Frankls Gedanken in Bezug auf die Erwerbsarbeit folgendermaßen:
„Wir können uns durch die Erfüllung einer Aufgabe, durch die Erbringung einer Leistung, durch die Schaffung eines Werkes motivieren.“ 

Was ist nun der springende Punkt in diesen Debatten?

Es geht in vielen Debatten zum Thema Erwerbsarbeit im Allgemeinen und der damit verbundenen Arbeitszeitdiskussion im Speziellen vor allem darum, sich selbst und seine individuellen Lebenszustände zu optimieren. Und wenn man Frankl folgt, mit schwerwiegenden Folgen für alle Betroffenen und letztlich das Gesamtsystem:

  • Menschen werden nur schwerlich zufriedener, wenn Sie weniger leisten.
  • Vor allem, wenn man erkennt, dass jede Art der Erwerbsarbeit in irgendeiner Form einen Dienst an der Gesellschaft darstellt, egal ob in handwerklichen Berufen, in der Exekutive, der Politik, in den Wissenschaften, in den Sozialberufen und vielen weiteren Tätigkeitsbereichen.
  • Möglichst wenig arbeiten bedeutet somit auch: möglichst wenig für andere leisten.

Menschen, die in Organisationen arbeiten, werden für Leistung bezahlt, egal, ob man das gut findet oder nicht. Leistung, die den Kunden der Organisation zugutekommt. Denn nur jene Organisationen werden auf Dauer lebensfähig sein, die einen überlegenen Kundennutzen bieten.

Man könnte es auch anders formulieren: der „Wert“ der Arbeit eines Unternehmens ist erst im Lichte des Nutzens für den Kunden erkennbar.

Wie lange es dauert, um diesen Nutzen für die Kunden zu stiften, ist eigentlich eine nachrangige Frage. Aber Zeit ist eine einfach zu messende Größe, daher ist sie ideal für einen politischen Ordnungsrahmen. Und dieser Maßstab zur „Leistungsmessung“ wurde freilich in den meisten Ländern umgesetzt.
Dass sich unsere Gesellschaft von einem Volk aus weitgehend ungelernten Arbeitskräften zu einer Gesellschaft von Wissensarbeitern gewandelt hat, spielt in diesem Ordnungsrahmen nach wie vor kaum eine Rolle.

Viktor Frankl: „Der Wille zum Sinn bestimmt unser Leben! Wer Menschen motivieren will und Leistung fordert, muss Sinnmöglichkeiten bieten.“
Wenn aber Menschen den eigentlichen Zweck der Erwerbsarbeit nicht mehr sehen oder sehen wollen, und der Sinn des Lebens nur mehr außerhalb der Arbeit gesucht wird, dann hat das schwerwiegende Konsequenzen – sowohl für das Individuum als auch für das gesellschaftliche Gesamtsystem.

Wenn wir den sozialen Frieden und die Errungenschaften des modernen Sozialstaats weiterhin genießen möchten, müssen wir uns diesen Tatsachen stellen. Besser heute als morgen.

Literaturnachweise:

Frankl, V.; Der Mensch vor der Frage nach den Sinn, München 1979

Malik, F.; Management – Das A und O des Handwerks, Frankfurt, 2005

23.10.2023
https://www.trend.at/karriere/work-life-disbalance-trend-umfrage

23.10.2023
https://sz-magazin.sueddeutsche.de/die-loesung-fuer-alles/acht-gruende-fuer-die-vier-tage-woche-85798

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Paul Slamanig

Mag. Paul Slamanig ist Wirtschaftstrainer und Unternehmensberater mit über 30 Jahren Erfahrung.

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